Wie Freiwilligenseminare unsere Demokratie stärken und Freundschaften schaffen
Lesezeit: 5 Minuten24 junge Menschen, 24 Meinungen, 24 Blickwinkel… und fünf Tage zusammen irgendwo im Nirgendwo.
So, oder so ähnlich, kann man sich ein Seminar im Rahmen des Freiwilligen Sozialen Jahres im politischen Leben vorstellen. Unser Trägerverein, die ijgd, hat uns also nach Kürten, eine kleine Gemeinde im Rheinisch-Bergischen Kreis, geschickt. Mitten ins Grüne, raus aus dem Alltag. Und was auf den ersten Blick ein bisschen nach Ferienfreizeit oder Klassenfahrt klingt, ist in Wirklichkeit viel mehr. Ich würde mich sogar schon so weit aus dem Fenster lehnen und behaupten, dass es das Herzstück des Freiwilligendienstes ist. (Mein FSJ-P läuft noch nicht mal zwei Monate, also nageln Sie mich bitte nicht darauf fest.)
Um Ihnen zu zeigen, was dieses Seminar so besonders macht und nebenbei ein bisschen Wissen über die Internationalen Jugendgemeinschaftsdienste zu vermitteln, schauen wir uns die Arbeitsgrundsätze der ijgd an und was sie für das Seminar bedeuten.
- Ökologisches Lernen
- Freiwilligkeit
- Selbstorganisation
- Soziales Lernen
- Interkulturelles Lernen
- Geschlechtergerechtigkeit und sexuelle Vielfalt
- Antirassismus und Antidiskriminierung
- Politische Bildung
Der erste Arbeitsgrundsatz der ijgd heißt: Ökologisches Lernen. Ein Grundsatz, der nicht theoretisch erarbeitet, sondern einfach gelebt wird. Denn die Seminarwochen stehen unter dem Motto: Selbstversorgung. Vom Essensplan über den Einkauf bis zum Kochen haben wir alles eigenständig in kleinen Kochgruppen organisiert. Wichtig dabei? Die Nachhaltigkeit. So haben wir zum Beispiel möglichst regional und fair gehandelt eingekauft, am liebsten mit Bio- oder Fairtrade-Siegel. Fleisch? Gab es keins. Die Woche war komplett vegetarisch. Und wir haben versucht so zu planen, dass wir möglichst wenig wegschmeißen müssen. Natürlich lief nicht alles reibungslos. Einmal gab es so viele Wraps, dass sie locker die dreifache Anzahl an Leuten satt gemacht hätten. Dasselbe galt für einen Topf mit mehreren Litern Tomatensoße, der einfach nicht leer werden wollte. Die Schlussfolgerung: Wraps mit Tomatensoße. Es ist Kreativität gefragt. Aber auch das war Teil vom Lernprozess. Für 24 Leute zu kochen ist nicht einfach. Und das ist auch völlig normal.

Zum Thema Freiwilligkeit kann man sagen: Es steckt ja schon im Wort Freiwilligendienst. Niemand ist gezwungen, so ein Jahr zu machen (zumindest noch nicht… meine Perspektive dazu gab es im letzten Blogbeitrag). Für die ijgd ist Freiwilligkeit ziemlich zentral. Sie ist die Grundlage für motiviertes Arbeiten, egal ob in der Einsatzstelle oder im Seminar. Zwar sind die Seminare verpflichtend für alle Freiwilligen, aber was dort passiert, soll von uns gestaltet werden. Und wer mal eine Pause braucht, kann sich auch jederzeit zurückziehen. Dieses erste Seminar wurde, da es unser Einstieg ins FSJ-P war, allerdings noch komplett von unseren Teamer*innen Jonas und Anastasia geplant (die das verdammt cool gemacht haben). Neben vielen Infos zum FSJ-P, wie unseren Rechten und Pflichten oder einer Einführung in die Arbeitsgrundsätze, gab es auch eine Einheit zu Antisemitismus und Antirassismus. Ehrlich gesagt ging diese aber im Rest der Woche etwas unter. Das ist schade, nicht nur weil sie einen der Arbeitsgrundsätze der ijgd abbildet, sondern auch, weil das Thema gerade in der heutigen Zeit mehr Raum und Aufmerksamkeit verdient hätte. In einer Gesellschaft, in der Ausgrenzung und Diskriminierung wieder spürbar zunehmen, braucht es Räume, um sich damit auseinanderzusetzen. Vielleicht ergibt sich im Laufe des Freiwilligendienstes noch einmal die Gelegenheit, das in einer ruhigeren Seminarphase aufzugreifen.
Zum Ende der Woche hin stand dann die Themenfindung für das nächste Seminar an. Aus unzähligen Vorschlägen hat sich unsere Gruppe auf ein Thema geeinigt, das zunächst ungewöhnlich wirkt: Verschwörungstheorien. Ich bin ehrlich gespannt, wie das zweite Seminar aussehen wird. Es ist schon interessant, wie sich eine so diverse Gruppe an Menschen in kurzer Zeit auf ein gemeinsames Thema einigen kann.
Und damit kommen wir auch schon zum sozialen Lernen. Auf einem fünftägigen Seminar hat man echt viel Zeit, um sich kennenzulernen, zu diskutieren, zu streiten, zu verstehen und zusammenzuwachsen. Gerade das erste Seminar, das vor allem dazu da ist, sich als Gruppe zurechtzufinden, bietet unglaublich viel Raum für Austausch. Und das ist auch genau richtig so. In unserer Gesellschaft entstehen immer öfter verhärtete Fronten. Es gibt nur noch Schwarz oder Weiß, richtig oder falsch. Wer nicht die eigene Meinung teilt, wird einfach ausgeblendet. Auf dem Seminar habe ich das ganz anders erlebt. Klar, es wurde viel diskutiert. Klar, wir waren oft nicht einer Meinung. Aber all das war von Respekt und echtem Interesse geprägt. Auch wenn wir am Ende nicht immer auf einen Nenner gekommen sind, hat jede und jeder den Austausch wertgeschätzt. Diese Zeit hat mir nochmal deutlich gezeigt: Es ist gut, andere Meinungen zu haben und es ist stark, sich für diese einzusetzen. Wichtig bleibt, dass man sich dabei nicht von unseren grundlegenden demokratischen Werten entfernt. Dann ist ein lebhafter Austausch das Beste, was unser Demokratie passieren kann. Denn wir sind nun mal nicht alle gleich und kommen nur mit Kompromissen weiter, die viele Perspektiven mit einbeziehen. Das Seminar hat einen Raum geschaffen, um das eigene Schubladendenken zu hinterfragen und in anderen mehr als nur ihre politische Haltung zu sehen.

Das beste Beispiel: Wenn zwei Leute mit komplett unterschiedlichen Einstellungen sich am ersten Tag gemeinsam an der Tomatensoße versuchen, vor ein paar Kochproblemen stehen und erst nach dem Essen in eine Küchentischdiskussion übergehen, rückt die Politik (auch auf einem politischen Seminar) mal in den Hintergrund. Sie lernen den Menschen hinter dem Partei-Vorurteil kennen, werden vielleicht sogar Freunde und können auf eine lustige Art mit ihren unterschiedlichen Meinungen umgehen. Genau das schafft den Raum, um die Perspektive des anderen wirklich zu verstehen und später respektvoll und sachlich miteinander zu diskutieren.
Hier möchte ich nun einen Schlussstrich ziehen. Über diese Woche könnte man noch viel mehr schreiben und es gäbe noch weitere Arbeitsgrundsätze, die man aufschlüsseln könnte, aber ich glaube, das bisher Geschilderte bringt die Kernessenz ganz gut auf den Punkt. Ich hoffe, Sie können sich jetzt etwas besser vorstellen, was alles zu einem FSJ-P dazugehört und was für Chancen es einem bietet. Bisher kann ich sagen: Es war eine der besten Entscheidungen meines Lebens (wenn man das ständige Pendeln mit der Bahn mal ausblendet)!
Wenn Sie Fragen zum FSJ-P haben oder mir Ihre Perspektive zu diesem Blogbeitrag mitteilen möchten, können Sie mir gerne hier schreiben. Ich freue mich.
Ihr Clemens
