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Veranstaltungsbericht zu „Afghanistan, wie weiter?“
Lesezeit: 5 MinutenDie Bilder aus Afghanistan aus dem Sommer 2021 gingen uns nicht mehr aus dem Kopf. Wie kann es weitergehen nach der gewaltvollen Machtergreifung der Taliban? Wie kann das Engagement von zivilgesellschaftlichen Organisationen und wie kann humanitäre Hilfe vor Ort zukünftig aussehen? Wo sollten besondere Schwerpunkte durch die neue Bundesregierung gelegt werden? Wie können wir die weitere Entwicklung Afghanistans begleiten? Was macht die gesamte Situation mit den Afghan*innen hier vor Ort in Deutschland, konkret im Raum Düsseldorf?
Diese Fragen diskutierten wir im Rahmen einer Online-Diskussionsveranstaltung am 17. Dezember 2021 unter dem Titel „Afghanistan, wie weiter?“. In Kooperation mit Flüchtlinge Willkommen in Düsseldorf e.V. luden wir zwei sachkundige Panelist*innen ein:
Jamal Rahman ist in Afghanistan geboren und lebte von 1980 bis 2002 in Deutschland. Nach dem Sturz der Taliban ist er nach Afghanistan zurückgekehrt und war dort u.a. Mitarbeiter der Deutschen Botschaft und Beauftragter des afghanischen Präsidenten für auswärtige und kulturelle Angelegenheiten. Im Oktober 2021 ist er wieder nach Deutschland zurückgekehrt.
Sara Nanni ist seit diesem September Düsseldorfer Bundestagsabgeordnete für Bündnis 90/Die Grünen. Die studierte Friedens- und Konfliktforscherin ist Mitglied im Forum Neue Sicherheitspolitik der Heinrich-Böll-Stiftung und war vorher von 2015 bis 2019 Sprecherin und stellvertretende Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden und Internationales von Bündnis 90/Die Grünen. Die aktuelle Situation in Afghanistan begleitet sie aufmerksam und fortlaufend.
Moderiert wurde die Veranstaltung von einem Vorstandsmitglied von Flüchtlinge Willkommen in Düsseldorf e.V., Ansgar Drücker. Er ist Geschäftsführer des Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V. (IDA).
Wahrnehmung der Machtergreifung der Taliban
Die beiden Panelist*innen waren sich einig, dass die Machtergreifung der Taliban im August 2021 keineswegs eine Überraschung gewesen ist. Vielmehr hat sich die Situation bereits im Vorfeld immer mehr angebahnt. Es herrschte Frust darüber, dass es, trotz dieser offensichtlichen Entwicklungen, keine Reaktionen seitens verschiedenster internationaler Akteur*innen gegeben hat. Sara Nanni berichtete, dass es eine Enquete-Kommission und einen Untersuchungsausschuss zu den Ereignissen im Sommer 2021 geben wird, um zu analysieren, was genau schiefgelaufen ist. Afghanistan darf nicht vergessen werden.
Jamal Rahman war während der Machtergreifung in Kabul. Zu diesem Zeitpunkt hat er gerade die Übergabe an seinen Nachfolger als Generaldirektor der Staatsdruckerei gestaltet; plötzlich waren die Taliban in allen Straßen zu sehen. Alle staatlichen Einrichtungen wurden geschlossen, die Menschen konnten nicht mehr zur Arbeit gehen. Daraufhin erfolgte der Zusammenbruch der Institutionen.
Die Wahrnehmung in der Bevölkerung gestaltet sich aktuell sehr unterschiedlich. Häufig wird die Kontrolle durch die Taliban positiv bewertet, da hierdurch die Kriminalität auf den Straßen zurückgegangen ist und mehr Ruhe herrscht. Auf der anderen Seite empfindet insbesondere die städtische Bevölkerung, dass es für sie nun keine Zukunft oder Perspektive mehr gibt, da die Universitäten und Schulen geschlossen worden sind. Die starke Entkopplung von der restlichen Welt ist abzusehen, weil die Taliban Afghanistan hin zu einem islamischen Staat aufbauen wollen. „Es gibt in dem Staat der Taliban keine freien Bürger*innen, sondern nur Untertanen“, so Jamal Rahman.
Es ist sehr wichtig in Afghanistan zwischen dem städtischen und dem ländlichen Teil der Bevölkerung zu unterscheiden, da auf dem Land in den vergangenen 20 Jahren immer Krieg herrschte und die Regierung der Bevölkerung dort keine Sicherheit bieten konnte. In den Städten hingegen, gab es Bildungs- und Freizeitmöglichkeiten.
Probleme der aktuellen Situation und wie es weitergehen soll
Das große Problem der aktuellen Situation ist, dass es in Afghanistan keine Möglichkeit gibt auf die Taliban zu reagieren, da es keine politischen Strukturen und Organisationen gibt. Sara Nanni äußerte, dass die sicherheitspolitische Lage komplett falsch eingeschätzt worden ist. Auf der einen Seite kam zwar humanitäre Hilfe von Deutschland und es war nie ein rein militärisches Unterfangen, jedoch wurden keine Strukturen in Afghanistan mit Blick auf die Zivilgesellschaft und hinsichtlich der internationalen Zusammenarbeit etabliert. Jamal Rahman ergänzte, dass es einen großen „Brain Drain“ aus Afghanistan heraus gibt, was auch auf die fehlenden Strukturen zurück zu führen ist.
Die Flucht aus Afghanistan bleibt nach wie vor ein Privileg, was man sich leisten muss und ist auch dann mit Hindernissen verbunden. Im Plenum der Veranstaltung war ein ehemaliger Dolmetscher der Bundeswehr anwesend und schilderte kurz seine Situation. Er wohnt seit April 2014 in NRW und versucht seither seine Familie nach Deutschland zu holen – bisher erfolglos. Seine Familie ist zurzeit auf der Flucht vor den Taliban.
Ein weiterer Teilnehmer schilderte eine ähnliche Situation von Bekannten und verdeutlichte damit noch einmal die Schwierigkeit, aus Afghanistan auszureisen. Jamal Rahman hat vor seiner Flucht zuerst auf eine Evakuierung aus Afghanistan gewartet, was jedoch nicht geschehen ist. Daraufhin ist er mit dem Auto über die usbekische Grenze geflohen, um von dort aus weiter nach Deutschland zu fliegen. Er wurde auf seinem Weg zwar mehrmals angehalten, aber glücklicherweise nie kontrolliert.
Sara Nanni verdeutlichte, dass es nun ein „politisches Go“ für eine Ausreisezusage aus Afghanistan nach Deutschland von 29.000 Menschen gibt. Allgemein ist ihr Eindruck, dass seitdem die Stimmung in den beteiligten Ministerien sehr motiviert ist, die Menschen nach Deutschland zu holen. Für die kommenden Ausreisen werden allerdings zunächst einmal die Menschen priorisiert, die eine Zusage für die Ausreise bekommen haben. Eine Erleichterung ist es, dass der Flugverkehr von Kabul nun tagsüber wieder aktiv ist. Zudem hat die internationale Gemeinschaft wieder näher zusammengefunden und die Situation in Afghanistan steht stark im Fokus.
Bei der Frage von Ansgar Drücker, ob man mit den Taliban verhandeln sollte oder nicht, waren sich die beiden Expert*innen einig, dass im humanitären Sinne Verhandlungen gerechtfertigt sind. Allerdings dürfen die Taliban nicht als legitime Machthaber anerkannt werden.
Im weiteren Vorgehen sollten nun alle zivilgesellschaftlichen Organisationen, welche auch vorher in Afghanistan aktiv waren, so schnell wie möglich wieder zurückkehren, um humanitäre Hilfe zu leisten. Insbesondere leiden Frauen unter der aktuellen Situation und dem Fehlen der Organisationen, da beispielsweise eine Alphabetisierung zurzeit nicht möglich ist. Jamal Rahman erwähnte, dass die Taliban zwar versprochen haben, dass Frauen Zugang zu Bildung erhalten sollen, allerdings nur im Rahmen der Scharia. Seiner Meinung nach muss so viel Druck wie möglich auf die Taliban ausgeübt werden um die Situation vor Ort zu verbessern. Dem gegenüber steht jedoch auch, dass die Verhandlungen diplomatische Schwerstarbeiten mit sich bringen und es noch lange dauern wird, eine politische Lösung zu finden. Sara Nanni verwies hier nochmal auf die Wichtigkeit des zivilgesellschaftlichen Engagements.
Wir danken allen Beteiligten und Teilnehmenden dafür, zum Gelingen dieser wichtigen Veranstaltung beigetragen zu haben und werden die Situation in Afghanistan weiterhin aufmerksam begleiten.